XVI
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Er war sehr müde. Seit langem war er nicht so früh aufgestan- den. Er schlief fast. Es war sehr kühl, und selbst die starren, kaum merklich flackernden Flämmchen der dünnen Kerzen schienen zu frieren. Sie standen gelb und steil, mager und ärm- lich vor diesem bläulichen Dunkel hinter dem Altar, von dem er nicht erkennen konnte, ob es eine getünchte Wand oder ein ver- blichener Vorhang war. Auch die Kerzenleuchter waren schäbig, ebenso flach wie das etwas schiefe Tabernakel, das sie flankier- ten. Die Leute hockten oder knieten stumm da, und manche rochen schlecht, so wie Leute riechen, die Hunger haben und ungelüftet wohnen: nach Kohl und kaltem Ofenqualm. Die Nak- ken, die er vor sich sah, waren dünn, Haare kringelten unter den Kopftüchern der Frauen hervor, und in dieser demütigen, muffi- gen Stille hörte er die Stimme des Priesters ruhig und gleichmä- ßig sprechen, wie jemand, der viel Zeit hat: Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam. Amen.
Er hatte noch nie einen Priester gehört, der den Satz bei jedem Kommunikanten ganz aussprach. Die meisten hatten immer nur gemurmelt und im Weitergehen weiter gemurmelt, aber dieser
blieb stehen und sagte vor jedem, dem er die heilige Hostie gab,
den ganzen Spruch. Die Kommunion schien unendlich viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Irgendwo hinter ihm mußten auch die Türen undicht sein, es zog. Mauerritzen und Fenster waren mit Holzplatten zugestellt, und die Holzplatten hatten sich vor Feuchtigkeit geworfen, waren gequollen und lösten sich in ver- schiedene Schichten auf, zwischen denen eine dreckige Brühe herauskroch: der Leim, der sie einmal zusammengehalten hat- te…
Vorne, wo der Altar war, mußte ein gotischer Bogen, der ins Hauptschiff geführt hatte, zugemauert oder durch ein großes Tuch verhängt sein, noch immer nicht konnte er feststellen, ob
es Mauer oder nur eine Art Kulisse war. Sichtbar waren nur die
vergoldeten, sich spitzbogenförmig vereinigenden Streben eines imitiert gotischen Pfeilers, dessen Endpunkte genau über der Mitte des Altars zusammenliefen.
Alles ging so langsam. Immer noch teilte der Priester die Kommunion aus an die paar Leute, die zur Kommunionbank gingen, und seine Stimme murmelte immer wieder ausführlich und feierlich über jedem dieser armen grauen Köpfe, während er die schmale Scheibe der Hostie hochhielt: Corpus Domini nostri Jesu Christi…
Der Meßdiener hatte den Kragen des Chorrocks hochgeschla- gen und schien sich unter den weiten Rüschen seiner Ärmel die Gelenke warm zu reiben. Außerdem war deutlich zu hören, daß er in gewissen regelmäßigen Abständen die Nase hochzog. Der Priester betete mit erhobenen Händen die Schlußgebete, und die Antworten des Meßdieners kamen mürrisch und gleichgültig. Er hob den Kopf manchmal etwas und schien nach den Kerzen zu schielen, als mißbillige er diese Wachsverschwendung. Endlich kniete er mit dem Meßbuch auf dem Arm vorne, und der Priester machte langsam und feierlich das Kreuzzeichen über ihn…
Hans spürte trotz allem etwas wie Frieden und Freude. Er sah noch, wie der Junge hastig die Kerzen auspustete und dann hin-
ter dem Kaplan in die Sakristei schritt. Draußen war es ganz hell,
es mußte schon fast acht Uhr sein. Er überquerte die Straße und klingelte wieder, drinnen hinter dem eisernen Gitter der Tür hörte er schrill und hohl den Ton der Klingel. Die Haushälterin, ein Frauenzimmer mit breitem rötlichem Gesicht, öffnete drin- nen die Klappe, sah ihn prüfend an und fragte: »Ist die Messe jetzt aus?«
Als er »Ja« sagte, riß sie ohne ein weiteres Wort die Tür auf und rief ihm zu, während sie sich schon umwandte und in den Flur zurückging: »Kommen Sie.«
Er ging ihr nach, aber als er am Ende des Flures im Dunkeln gegen eine hölzerne Wand stieß, war sie verschwunden, und er dachte: ich soll wohl warten…
Von irgendwoher, um eine Ecke herum, die er nicht sehen
konnte, erreichte ihn das Klappern von Geschirr, und plötzlich
erkannte er den widerwärtigen schmutzig süßlichen Geruch, der im Flur hing, festgefressen in dem halb zerfetzten und offenbar feuchten Rupfen: es war der Geruch zerkochter Zuckerrüben: der Dampf quoll aus der Ecke, hinter der die Küche sein mußte, und es schlug ihm warm und widerlich entgegen. Offenbar war sie damit beschäftigt, Rübenkraut herzustellen, wie es fast alle machten: auf einem Ofen, der nicht zog, der mit nassem Holz gefeuert wurde, denn es kam auch Qualm und der Geruch von Ruß auf ihn zu, und die tiefe Stimme der Haushälterin sang hinter der Ecke, die zu betreten er offenbar nicht würdig war: Rorate Coeli desuper und sie antwortete sich selbst mit einem noch tieferen baßartig angedeuteten Gebrumm: Et nubes pluant justum. Offenbar ging ihre Kenntnis des Textes nicht über diese beiden Zeilen hinaus, denn immer wieder kaute sie sie breit in ihrem Mund und brummte sie hinaus. Er fühlte sich versucht, in den langen Pausen, die sie aufkommen ließ – offenbar um ir- gendwelche Verrichtungen am Herd zu tun, in diesen langen Pausen fühlte er sich versucht, die lateinischen Gebete einzu- flechten, die ihm jetzt aufstießen, nach langer Zeit; es mußte fast zehn Jahre her sein, daß der Religionslehrer sie ihnen in der Schule eingetrichtert hatte: Ne irascaris Domine… ne… ultra me, jene langatmigen halbgesprochenen Gesänge, die zum Ende hin etwas heller aufbrachen wie sanfte Knospen, und prompt ertönte hinter seiner Erinnerung an diese langen Gebete wieder die Stimme der Haushälterin: Rorate Coeli desuper…
Endlich fiel von der Haustür her Licht in den Flur, und er er- kannte in diesem weißlichen Strahl den langen mageren Schatten des Kaplans und sah gleichzeitig, daß er vor einem Verschlag stand, hinter dem eine Kartoffelkiste und aller dreckige Krempel aufbewahrt zu werden schien. Die Gestalt kam näher, und als er im Dunkeln ihren Atem spürte und auch das blasse Gesicht sah, sagte er laut: »Schnitzler.«
»Ah Schnitzler«, sagte der Kaplan hastig, offenbar nervös.
»Schön, daß Sie gekommen sind. Freut mich…«
Der Kaplan öffnete eine Tür, aus der fahles Licht kam, nötigte
ihn herein, und er sah sich einem tollen Wirrwarr gegenüber von
Bett, Stühlen, Bücherschränken und einem riesigen Tisch, der mit Büchern bedeckt war, Zeitungen, einer Tüte voll Mohrrü- ben…
»Verzeihen Sie«, sagte der Kaplan unruhig, »diese Unordnung. Man wohnt so eng.«
Er blickte sich lange um: das Zimmer sah wirklich scheußlich aus – immerhin war das Bett gemacht, wahrscheinlich das einzi-
ge an Aufräumungsarbeit, was sich in dieser Bude lohnte. Auch
der Boden war sauber, soweit überhaupt Boden da war: viel- leicht drei Quadratmeter hölzerner Dielen mit großen Rillen zwischen den Brettern, in denen der Dreck feucht und schwärz- lich glänzte, ein Zeichen, daß Putzwasser ihn genäßt hatte. Im Bücherregal standen verschiedene Bände verkehrt herum. Er ging näher, um sie herumzudrehen. In diesem Augenblick kam der Kaplan mit der Haushälterin herein: er trug ein Tablett mit der Kaffeekanne, zwei Tassen, Brotscheiben auf einem Teller und einer Schale flüssigen Rübensirups. Die Haushälterin hatte einen Arm voll Holz und in der anderen Hand einen Knäuel Holzwolle…
»Sie trinken doch mit mir Kaffee, wie?« fragte der Kaplan.
»Es ist kalt, nicht wahr, kalt im Juni.« Er lachte.
Er hatte tatsächlich Hunger, und hier im Zimmer fror er wie- der. Er sagte: »Ja, danke.« Die Haushälterin stopfte die Holzwol- le in ein schwarzes Ofenloch unmittelbar hinter dem Bett, ließ
Holzstückchen nachfallen und knüllte eine Zeitung zusammen…
»Lassen Sie nur, Käthe«, sagte der Kaplan, »ich mache das schon.« Sie ging hinaus, und als sie die Tür geschlossen hatte, hörte man sie wieder singen draußen, offenbar mit großem Ge- nuß: Rora – – dann schien sie um die Ecke verschwunden zu sein.
Der Kaplan hielt ein Zündholz an das zusammengeknüllte Pa- pier, und die Flamme fraß sich dunkelblau und zögernd nach oben durch; Qualm kam unten heraus, und aus der Klappe oben
stiegen winzige hellgraue Wölkchen.
»Sie müssen verzeihen«, sagte der Kaplan, »daß ich Sie habe
warten lassen, aber der Pfarrer ist krank, und ich mußte auch die
zweite Messe lesen; ich wußte es gestern noch nicht. Hoffentlich habe ich Sie nicht von etwas Wichtigem abgehalten…«
Er stand jetzt händereibend neben dem Ofen und sah Hans neugierig an, ließ dann den Blick wieder fallen und murmelte:
»Sie glauben nicht, wie man kalt wird in dieser Kirche, ich habe
das Gefühl, nie mehr warm zu werden, was soll das geben, wenn Winter wird.« Tatsächlich war er blaß, sein grober Mund hing müde nach unten. Unter den traurigen schönen Augen, dem einzig Schönen an ihm – waren tiefe Schatten von dunklem Rot. Die Lider waren entzündet. Im Ofen hörte man das Holz knak- ken, der Kaplan griff unter das Bett, nahm aus einer Kiste zwei Briketts und warf sie vorsichtig von oben auf das Feuer. Er schien irritiert, daß Hans nichts sagte.
»Halte ich Sie wirklich nicht auf?« fragte er nervös.
Hans schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie hatten mich gebeten einmal herzukommen, ich…«
»Gewiß«, sagte der Kaplan… »ich bat Ihre – Ihre Frau, Ihnen auszurichten – einen Augenblick« – er trat an den Tisch, goß die Tassen voll und setzte sich. »Nehmen Sie doch bitte Brot und
Kraut…«
»Ich habe schon gefrühstückt – der Kaffee tut gut. Er ist heiß.«
»Aber essen Sie ruhig etwas.«
»Danke.«
Der Kaplan nahm jetzt, indem er das Messer und den linken Zeigefinger zu einer Art Zange zusammenfaßte, eine Scheibe Brot und ließ mit dem Löffel den sehr dünnflüssigen Sirup da- rauftropfen, der noch warm zu sein schien. Er fing mit großem Genuß an zu essen – manchmal wandte er sich um, blickte auf den Ofen und stellte schmunzelnd fest, daß das dünne Blech an zu glühen fing…
Er aß langsam, in der Art jener Leute, die den schrecklichen Augenblick hinauszögern wollen, wo sie nichts mehr zu essen haben werden, und die wissen, daß sie noch Hunger haben wer-
den. Außerdem schien das Rübenkraut ihm Zahnschmerz zu
verursachen, manchmal verzog sich sein Gesicht, er versuchte
sich zu beherrschen, und es entstand ein kümmerliches Grinsen;
die letzte Scheibe spülte er trocken mit heißem Kaffee hinunter.
»Aber Sie rauchen doch sicher«, sagte er, als er den letzten Krümel mit seinem breiten Daumen vom Teller getupft hatte.
»Ja«, sagte Hans.
»Langen Sie doch bitte die Tüte herüber.« Die Tüte lag zwi- schen einem Koffer und einem Pappkarton, der offenbar schmutzige Wäsche enthielt, auf dem Bücherbrett, sie war mit
grobgeschnittenen schwärzlich braunen Tabakstücken gefüllt.
Hans gab sie ihm und zückte gleichzeitig seine Dose, die nur ein paar Tabakkrümelchen und das gelbe platte Heftchen mit Ziga- rettenpapier enthielt.
»Sie drehen?«
»Ja«, sagte Hans. Der Kaplan hielt ihm die Tüte hin und fing an, sich eine Pfeife zu stopfen, dann lehnte er sich zurück und sagte hüstelnd: »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Sie müs- sen verzeihen. Es ist nicht üblich, daß wir die Gläubigen zu uns bestellen, ich glaube, es wird nicht gerne gesehen – unsere Vor- gesetzten sind empfindlich gegen den geringsten Schein der Proselytenmacherei« – er hustete heftiger und wischte sich win- zige weiße Schaumflocken vom Mund – »aber ich nahm mir das Recht, weil ich Ihre Frau kenne und bei meinem Besuch fest- stellte, daß Sie es waren, der neulich in der Krypta bei mir war… wir haben sie räumen müssen, wie Sie sehen – der große Giebel der Oberkirche ist eingestürzt, und die Decke der Krypta wies Risse auf –«
»Ich habe es gesehen«, sagte Hans.
»Diese Kirche ist sehr häßlich« – er zuckte die Schultern, of- fenbar sprach er lieber von etwas anderem als von dem, was er sich vorgenommen hatte. »Es ist der Rest einer Krankenhauska- pelle – Sie wußten nicht, daß ich Ihre Frau kannte?«
»Nein…«
»Ich habe Ihr Kind beerdigt…«
»Es war nicht mein Kind…«
»So« – er räusperte sich und fingerte nervös an seiner Pfeife herum, die nicht zu ziehen schien – »ich habe es beerdigt. Ihre
Frau ist sehr gläubig.«
»So?«
»Sie wußten es nicht?« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte Hans mit ehrlichem Entsetzen an.
»Nein«, sagte Hans, »ich wußte nicht, daß sie so sehr gläubig ist. Wir haben erst einmal sehr kurz über religiöse Dinge gespro-
chen…«
»Und Sie sind nicht verheiratet… nicht kirchlich?«
»Nein – auch nicht amtlich.«
Der Kaplan machte Hm und steckte die Pfeife wieder in den Mund, der Tabak brannte schlecht, und durch das dauernde hef- tige Ziehen befiel ihn eine kleine Atemnot. Es dauerte eine Zeit- lang, bis der Tabak endlich durchglühte und wirkliche Wolken aufstiegen.
»Sehen Sie«, sagte er, »ich habe mich einige Male schon mit Ihrer Frau unterhalten, auch bevor Sie hier waren. Sie ist wirk- lich gläubig, sogar fromm – wußten Sie es nicht, wirklich
nicht?«
Hans schüttelte stumm den Kopf. Der Tabak war stark, offen- bar selbst gezogen und flüchtig getrocknet; es befiel ihn leichter Schwindel, und die Müdigkeit stieg in ihm auf wie ein Gift, das sich langsam verbreitete und alle Öffnungen des Bewußtseins verstopfte. Er trank einen Schluck Kaffee, sah, daß der Kaplan den Arm hob, um noch einmal einzuschenken, und blickte un- willkürlich weit in den schlapphängenden schwarzen Ärmel hinein, sah einen behaarten muskulösen Arm und den zusam- mengerollten Hemdärmel oben an dem Ellenbogen und dachte: Warum rollt er nicht den Ärmel herunter, wenn er friert. Das heiße Getränk belebte ihn wieder, und er hörte jetzt, daß der Kaplan weitergesprochen hatte, einige Sätze, die er nicht gehört hatte, denn in diesem Augenblick sagte er – »Die Sakramente, ich verstehe nicht, wie man glauben und auf die Sakramente verzichten kann. Haben Sie eine Begründung dafür, wie?« Aber er erwartete offenbar keine Antwort. »Sie glauben doch auch, wie?« Der Kaplan sah ihn scharf an und wiederholte lauter und schärfer die Frage: »Sie glauben doch?« Offenbar erwartete er
auf diese Frage eine Antwort.
»Ja«, sagte Hans, ohne zu überlegen. In Wirklichkeit fiel ihm jetzt erst ein, daß er im Grunde genommen nie aufgehört hatte zu glauben. Alle diese Dinge waren ihm selbstverständlich, wenn auch oft die Müdigkeit so groß gewesen war, daß sie belanglos erschienen.
»Immerhin«, der Kaplan lächelte, »immerhin ist das nicht we- nig –« Er lächelte stärker und es legte sich wieder der Glanz einer unnahbaren Torheit über sein Gesicht, und er legte die Pfeife endgültig aus der Hand. »Und Sie haben einen Fürspre- cher, einen so wirksamen, daß Sie seinen Bitten wahrscheinlich nicht werden entfliehen können.«
Hans blickte ihn starr und verständnislos an. Er schüttelte den Kopf und stammelte langsam: »Meine Mutter, gewiß…«
»Nicht nur Ihre Mutter – Ihren Vater vielleicht… und man- chen, von dem Sie nichts wissen, aber einen haben Sie gewiß, ganz gewiß. Ich sage Ihnen, man kann zu diesen Kleinen beten –
es ist eindeutig, theologisch über jeden Zweifel erhaben, daß
sie bei Gott sind, verstehen Sie?« Hans schüttelte den Kopf.
Der Kaplan sah ihn entgeistert an, er sagte erschreckt, die Au- gen zusammenkneifend: »Das Kind – begreifen Sie denn nicht?«
Ach so, dachte Hans, er spielt auf das Kind an. Es gab Tage, an
denen er nicht daran dachte, während es manchmal ihn wie ein schrecklicher Schmerz begleitete, ein unsagbares Weh, für das er keinen Namen kannte. Er blickte den Kaplan an und sagte: »Ja, ja – aber es war nicht mein Kind…«
»Immerhin – Sie leben mit seiner Mutter in einer Gemein- schaft, wie es keine innigere unter Menschen gibt.«
Es war ihm klar, daß das Kind im Himmel war. Daran zweifel- te er nicht, ein sechs Wochen altes Kind kam wohl sofort in den
Himmel. Darüber brauchte man nicht zu sprechen – aber es
schien ihm töricht, daß dieses kleine Wesen seine Fürsprecherin sein sollte.
Er legte den Zigarettenstummel sorgfältig in seine Tabakdose und fragte: »War es deshalb, daß Sie mich baten, einmal zu
Ihnen zu kommen?« Der Kaplan nickte. »Sie müssen mir ver-
zeihen… immerhin – ich fühle mich verantwortlich.«
Hans stand seufzend auf und stellte sich neben den Ofen. »Ha- ben Sie Mangel an Kohlen?« fragte er ruhig. »Ja, ja«, sagte der Kaplan und wandte sich um, so daß sie sich ansehen konnten,
»sie sind so teuer…«
»Ich werde Ihnen welche bringen…«
»Oh, Sie meinen…«
»Sie brauchen mir nichts zu zahlen, mich kosten sie nichts…«
»Sie kommen beruflich daran.« Hans lachte. Er lachte laut, es schien, als lache er zum ersten Male seit langer Zeit wirklich herzlich und frei, er lachte so heftig, daß er sich verschluckte und ihn ein heftiger Husten befiel. Aber sofort, als er dem tö- richten und lächelnden Blick des Kaplans wieder begegnete, befiel ihn neues Lachen…
»Sie müssen mir verzeihen«, sagte er… »aber beruflich, beruf- lich ist gut.«
»Wieso«, der Kaplan schien wirklich etwas gekränkt zu sein,
»es wäre doch möglich.«
»Eben«, sagte Hans, und er spürte, daß ihn eine Plötzliche Trauer befiel, er sehnte sich danach, bei Regina zu sein, neben ihr zu liegen und ihre Stimme zu hören. »Ja«, sagte er, »ich habe beruflich damit zu tun, ich klaue sie, ich lebe davon…«
»Achso«, sagte der Kaplan und lachte kurz, »es ist wohl sehr anstrengend?«
»Es ist halb so schlimm, ziemlich einfach. Man muß nur etwas Maß halten – wenn man dreißig Stück in der Tasche hat, tut einem keiner was, aber ich hole drei mal dreißig am Tage, es ist
ein ganz pünktliches, regelmäßiges Leben, ich habe meine Aus-
rüstung wie ein Eisenbahner, Tasche und Lampe – auch einen Fahrplan. Ich beziehe meinen Posten mit der Regelmäßigkeit eines Beamten. Meine Bescheidenheit flößt den Polizisten of- fenbar Respekt ein. Ich werde Ihnen Briketts bringen…«
»Ich will sie gerne bezahlen…«
»Nein, nein, Sie machen mir eine Freude, wenn Sie« – er stockte und blickte den Kaplan unruhig an. Zum ersten Male
spürte er etwas wie Sympathie, die nicht diesem Menschen zu
gelten schien. Sie blickten sich an, und Hans spürte, wie sein Gesicht zusammenfiel, die Müdigkeit fraß auch die letzten Reste von Spannung aus seiner Haut, und er hatte das Gefühl, mit einer schlaffen lederartigen Hülle umgeben zu sein, die ohne jede Beziehung zu ihm stand. Er sagte leise: »Ich möchte beich- ten…«
Der Kaplan stand so plötzlich und heftig auf, daß Hans zu- sammenzuckte. »Schnell, schnell«, rief er, »setzen Sie sich hier- her.« Sein Gesicht drückte Freude und Angst aus, auch etwas wie Mißtrauen, und er bewegte sich mit einer Hast und einem Eifer, als müßte er zum Herd rennen und ein überkochendes Gefäß schnell retten.
»Setzen Sie sich hier«, rief er. Er selbst riß seine Stola vom Nagel, schob die Kaffeetassen beiseite und stützte die Ellenbo- gen auf, und die Art, wie er sein Profil mit der aufgestützten Handfläche verdeckt hatte, etwas Gewerbsmäßiges, etwas zu- gleich Einstudiertes und Unbewußtes; er flüsterte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Hans wiederholte die Worte stockend und sagte: »Amen.«
»Ich weiß nicht, wann ich zuletzt gebeichtet habe.«
»Versuchen Sie, es herauszubekommen…«
»Welches Jahr haben wir jetzt?«
»1945«, sagte der Priester ohne Erstaunen…
»Nun, ich weiß bestimmt, daß ich 43 gebeichtet habe, im Win- ter, vor einer Schlacht…«
»Also 1 bis 2 Jahre.«
»Ja«, er stockte. Immer wieder glitt sein Blick von der Hand des Priesters ab, die etwas angeschmutzt war von den Briketts, und seine Augen saugten sich fest an dem Brotteller, der hoff- nungslos blank war, den leeren Tassen mit dem schwarzen Satz und der grauen Tischdecke.
»Ich habe«, sagte er leise, »mich meistens gelangweilt. Ich ha- be keine fremden Götter angebetet und meine Frau nicht betro- gen, solange sie lebte…«
»Sie hatten eine Frau?«
»Ja… gelangweilt«, sagte er, »unaussprechlich gelangweilt…
keine Sakramente – keine Messe – die letzte Messe vor einem Jahr. Ja – vor einem Jahr – Ich habe gegen das sechste Gebot gesündigt, einige Male – ich habe gestohlen, oft gestohlen im Krieg – und jetzt die Briketts – und nun lebe ich mit Regina zusammen – aber sie ist meine Frau«, sagte er etwas fester.
Er starrte jetzt durch die Finger, die er etwas gespreizt halte, weil sie müde wurden von der festen krampfhaften Schließung, und er sah, daß der Kaplan lächelte, ohne daß er wissen konnte, daß er ihm zusah.
»Und die Gebete?« fragte der Priester.
»Ich weiß nicht…«
»Versuchen Sie, sich zu erinnern.«
»Ich habe lange nicht gebetet… zuletzt im Lazarett, das muß vor zwei Jahren gewesen sein… und die Briketts…«
»Hm«, machte der Priester, »wieviel holen Sie? Mehr als Sie brauchen?«
»Ja, ich tausche sie gegen Brot und Zigaretten…«
»Und verschenken welche?«
»Ja.«
»Schön… Sie dürfen sich nicht dran bereichern… leben muß man ja, Sie verstehen?«
»Ja.« Er schwieg.
»Ist das alles?« fragte der Kaplan leise.
»Ja.«
Der Priester räusperte sich. »Die Langeweile«, sagte er,
»kommt nicht von Gott. Denken Sie immer daran. Sie kann wohl zu etwas gut sein, wie das Böse ja auf eine geheimnisvolle Wei- se dem Guten dienen kann, dienen muß, verstehen Sie. Aber die Langeweile ist keinesfalls etwas, was unmittelbar von Gott kommt. Bedenken Sie das. Beten Sie, wenn Ihnen langweilig wird, und wenn es Ihnen zunächst noch langweiliger erscheint, beten Sie, beten Sie. Hören Sie? Einmal schlägt es durch. Immer weiter beten – und lassen Sie sich trauen. Nehmen Sie die Sa- kramente, sie sind unsere Speise hier. Und bedenken Sie, daß Sie nicht ohne Verdienste sind. Auch das ist Hochmut, sich für
solch einen Sünder zu halten, daß einen die Barmherzigkeit nicht
mehr erreichen konnte. Eine ganz besondere Art von Hochmut, die leicht mit Demut verwechselt wird – wollen Sie sich nicht trauen lassen… ihre Frau leidet unter diesem Zustand, glauben Sie es mir.«
»Trauen Sie uns.«
Der Kaplan schwieg. »Ich bin durch die Gesetze gebunden. Wir dürfen keine Ehe schließen, die nicht amtlich geschlossen ist. Warum lassen Sie sich nicht amtlich trauen…«
»Meine Papiere sind nicht echt… Dokumente könnten verlangt werden… Trauen Sie uns so…«
Der Priester seufzte, er schwieg lange. »Ich werde es tun«, sag- te er, »gegen alle Gesetze werde ich es tun – ich kann Sie bedin- gungsweise trauen, wenn Sie mir versprechen, sich später amt-
lich trauen zu lassen und auch die kirchliche Trauung noch ein-
mal nachzuholen…«
»Ich verspreche es.«
»Schön«, sagte er, »kommen Sie mit Ihrer Frau zu mir – nach der Messe – in die Sakristei – bringen Sie irgendwelche Zeugen mit. Erwecken Sie Reue…«
Während der Kaplan die aufgestützte Hand vom Tisch nahm,
die Hände faltete und sehr kurz und innig, fast nur einen Augen- blick, betete, versuchte Hans, Reuegebete zu erwecken, die er irgendeinmal gelernt hatte, aber ohne es zu wissen, murmelte er in sich hinein: »Ich bin müde, ich bin müde, ich bin hungrig, mir ist schlecht – Erbarmen« – aber schon war er losgesprochen, ehe er es gemerkt hatte, er mußte wieder einen dieser kurzen Anfälle schwindelhafter Müdigkeit gehabt haben, denn er sah schon über sich das blasse Gesicht des Kaplans, der aufgestanden war und leise murmelte: »Gelobt sei Jesus Christus…«
Er stand sofort auf und stellte sich mit dem Gesicht zum Ofen und plötzlich fiel ihm ein, daß er keine Buße aufbekommen hatte.
»Sie haben mir keine Buße auferlegt«, sagte er, ohne sich um- zuwenden.
»Beten Sie mit Ihrer Frau zusammen jeden Tag ein Vaterunser
und ein Ave Maria.« Die Stimme klang unpersönlich, etwas
gereizt und gelangweilt, und Hans empfand das als wohltuend. Er griff unter das Bett, warf noch zwei Briketts auf den Ofen und sagte: »Ich bringe Ihnen welche – morgen früh, Sie müssen das von mir annehmen…«
Als er sich umwandte, sah er, daß der Kaplan seine Tabakdose genommen und sie vollgestopft hatte. Er drückte die großen plattenartigen Tabakstücke hinein, klemmte den Deckel zu:
»Dann müssen Sie von mir das hier nehmen – ich bekomme ihn
geschickt von meinem Bruder; er pflanzt ihn selbst.«
»Danke«, sagte Hans. Als er sich verabschiedete, vermied er es, dem Kaplan ins Gesicht zu sehen.